Anno 1948 - 100 Jahre Schützenkorps


Mit ihren Jubiläen hatten die Winsener Schützen nicht unbedingt Glück. Ja 1898, als das 50jährige Jubiläum anstand, da hatten sie groß auf die Pauke gehauen! Sie weihten den neuen Schießstand ein und ließen einen geradezu gigantischen Festzug durch die Stadt fahren. Selbst Winsenia war sich nicht zu schade, dabei zu sein.

Aber als dann 1923 das 75jährige Jubiläum zu feiern war, da seufzte Deutschland unter den wirtschaftlichen Zwängen der Inflation. Und als das 100jährige Jubiläum anstand -

 

Anno 1948 - , da war der Zweite Weltkrieg gerade verlorengegangen, und die Militärregierungen der Sieger bestimmten, was geschehen durfte und was nicht.

Das Schützenwesen jedenfalls hatte noch keine Chance, sich zu entfalten. Kein Gedanke an Ummärsche in Uniform, erst recht kein Gedanke an Schießen. Eine Art Heimatabend im Winsener Bahnhofshotel war alles, was die Militärregierung erlaubte. Am Sonnabend, dem 2.Oktober 1948, traf sich dort, wer aus dem Krieg zurückgekommen war, wer die Entnazifizierung durchlaufen hatte, wer in den trüben Zeiten damals noch einen Gedanken verschwenden mochte an die Freuden der Schützenfeste von einst.

 


Um 20 Uhr begann die "Erinnerungs Feier". Die Kapelle Staek spielte. Der plötzlich aus dem Hut gezogene erste Vorsitzende des Schützenkorps Winsen, Hermann Haase, begrüßte die Versammelten. Der Singzirkel des MTV intonierte gänzlich neutral "Jägers Morgenbesuch" und "Der Jäger aus Kurpfalz". Später ließ er den "Frater Kellermeister" und "Ein Hoch dem deutschen Wein" folgen.

Noch dreimal spielte die Kapelle Staek, und viermal wurden gemeinsame Lieder angestimmt: "Mein Winsen" von Bäckermeister Wilhelm Lohmar, "Schon vor viel hundert Jahren" und "Schützenfeste begeht nun wieder / Winsen an der Luhe Strand", beide von Schützenchronist Martin Ravens, schließlich "Den Schützenfrauen" von einem unbekannten Verseschmied. Turnerinnen des MTV zeigten Gymnastik und tanzten eine Mazurka.
Die Festansprache hielt Alex Ravens. Interessant ist nicht nur, was er sagte; beinahe noch interessanter erschien, was er nicht sagte.

Der Festredner begann mit einer innigen Rückschau. "Heute wissen wir es zutiefst, was uns diese sommerschönen Julitage gewesen sind und persönlich bleiben werden - heute wissen wir, daß wir in dem bunten Jahreslauf eines Kleinstadtlebens etwas verloren haben..." Und Ravens brachte es auf den schwärmerischen Punkt: "Unsere Schützenfesttage waren das lebendigste und wahrhaftigste Spiegelbild der Heimatliebe!" Eine ganze Stadt habe das Schützen- und Heimatfest gefeiert.

 


Schon zitierte der Redner die Aufschrift der Fahne von Anno 1852: "Eintracht und Bütgersinn". Seine Nutzanwendung: "Laßt uns den Fahnenspruch ... als eine Wegweisung für unsere mannigfachen Aufgaben ... deuten"
Im ungeschriebenen Buch der Geschichte des Schützenkorps wollte Ravens nur wenige Seiten aufschlagen. Der Bürgerwehr wurde gedacht, der Gründung des Schützenkorps vor 100 Jahren und einiger folgender Ereignisse. "Was nach 1912 geschah, ist noch in frischer Erinnerung", konstatierte der Festredner. Kein Wort über die unbürgerliche schwarze beziehungsweise braune Attacke von 1935 auf das schützengrüne Bürgertum. Nichts über die jüngste Vergangenheit. Nicht einmal etwas über den Krieg und die Gefallenen aus den Reihen der Winsener Schützen.

"Selbst der schicksalhafte Strudel der Zeitgeschehnisse", hieß es sodann, und die Zuhörer horchten auf, "und selbst der großen Geschichte wechselvoller Lauf haben die im Heimatboden festverankerten Wurzeln dieses Volksfestes nicht zum Sturz bringen vermocht." Die überraschende Wende lautete: "Aus Schutt und Asche unserer Vaterstadt nach dem 30jährigen Kriege blühte dieses Heimatfest wieder auf und gab dem rauhen Leben seiner Bewohner neuen Auftrieb und neue Lebenskraft." Nicht der Zweite Weltkrieg, sondern der 30jährige Krieg war das Lehrstück.
Nur an einer Stelle streifte Alex Ravens die Gegenwart, als er dazu aufrief, Bausteine zusammenzutragen, "mit denen wir unser deutsches Vaterland aufbauen können, und zwar mit dem ehrlichen Streben: Faust und Stirn mit dem Willen der Männer zu vereinen, die die neue demokratische Staatsform Deutschlands vorbereiten".
Die neue demokratische Staatsform - einmal kam solch ein Begriff vor, das sollte genügen.
Anschließend "Tanz, Verlosung, Frohsinm", wie es auf dem bescheidenen Programm für den 2. Oktober 1948 hieß.